Über das Buch

Der zweitjüngste Sohn einer kinderreichen katholischen Lehrerfamilie in Derry bekam schon früh die Diskriminierung der Katholiken zu spüren, die in den 60er Jahren zur Bildung einer starken Bürgerrechtsbewegung führte. Auch in den deutschen Nachrichten gab es damals immer wieder Berichte mit Bildern von Bürgerrechtsmarschierern, Polizeiknüppeln und Panzern. Doch nur wenigen deutschen Zuschauern gelang es, sich ein Bild der Zusammenhänge zu verschaffen. Viele glaubten, es handele sich um einen Glaubenskrieg zwischen Protestanten und Katholiken und wunderten sich, wie im aufgeklärten Westen so etwas möglich sein konnte.

Hier liegt nun der authentische Bericht eines ursprünglich unbeteiligten, später aber radikalisierten Zeitzeugen und Mittäters vor, der die Hintergründe aus eigenem Erleben schildert. In den langen Jahren seiner späteren Haft rechnete O'Doherty schließlich schonungslos mit sich selbst ab und wandte sich der aktiven Reue zu. Als das Buch 1989 zuerst erschien, war es sofort ein Bestseller. Dem deutschen Buchmarkt blieb es allerdings lange verborgen. Nun kann man O'Dohertys Autobiographie endlich auch bei uns erhalten und aus erster Hand erfahren, wie ein entsetzter Jugendlicher das Blutvergießen des Bloody Sunday 1972 miterlebte und welche Folgen es für ihn hatte.


Bilder von Derry

Bilder von Derry: Stadtteil Bogside / Zwei Wandgemälde / Mahnmal in der Bogside (Fotos: Mark A. Wilson, Kryptonit, Wikimedia Commons, Alan Mc)

Mittwoch, 29. Januar 2014

Leseprobe 2: 30. 1. 1972 Bloody Sunday - der Blutsonntag

Am 30. Januar jährt sich in Derry wieder einmal der Bloody Sunday von 1970. In diesem leicht gekürzten Auszug aus "The Volunteer" berichtet Shane als Augenzeuge aus der Sicht des 15jährigen Teenagers, der er damals war:
Die Bürgerrechtsbewegung hatte schon ganz große Straßendemonstrationen gegen die Internierungsaktion organisiert und angeführt, und eine weitere war fünf Tage nach meinem Geburtstag geplant, also für den dreißigsten Januar.(...) 
Zu dem Demonstrationsmarsch ging ich zusammen mit Eamonn,...

... einem Sohn des Vorsitzenden der Nationalistischen Partei, mit dem ich mich trotz seiner bescheuerten pazifistischen Überzeugung gern anfreunden wollte. Die Demonstranten waren ungeheuer zahlreich, und der Marsch nahm seinen zähflüssigen Verlauf von der Grünanlage Bishop’s Field in Creggan durch die William Street, wo die britische Armee Barrikaden aufgestellt hatte, die die Bürgerrechtsmarschierer daran hindern sollten, das Zentrum ihrer eigenen Stadt zu erreichen. (Solche Barrikaden wurden immer von einem Tag auf den anderen abgebaut und genauso oft auch wieder aufgebaut.) Jedenfalls sollte der Marsch als nächstes die Straßenecke erreichen, die als Free Derry Corner bekannt ist, wo dann Parlamentsabgeordnete aus Westminster und der Labour-Parteiführer Lord Fenner Brockway zu der Menge sprechen sollten.

     Eamonn und ich schlenderten ziemlich weit hinten mit dem Protestzug mit, als unsere Gruppe die stacheldrahtbewehrten Barrikaden erreichte, wo britische Soldaten des Fallschirmjäger-Regiments uns bereits mit Gasmasken vor dem Gesicht und Gewehren in den Händen gegenüberstanden. Es war allgemein so, dass man bis zur Barrikade marschierte und sich dann in die Richtung der Redner weiterbewegte. Die Jüngeren fanden Spaß daran, bei den Barrikaden zu bleiben und die Soldaten laut rufend zu fragen, wieso die Bürger von Derry nicht frei waren, in ihre Stadtmitte zu marschieren, aber das war alles nichts Besonderes.

     Als Eamonn und ich an der Stacheldrahtabsperrung ankamen, bemerkte ich, wie rechts von mir ein großer, stämmiger Kerl, der sich ein Taschentuch vor das Gesicht gebunden hatte, etwas hervorzog, was offenbar eine CS-Gasgranate (ein länglicher Gummibehälter mit einer daran befestigten Zündvorrichtung) war. Er schleuderte sie über die Stacheldrahtbarriere hinweg auf die Soldaten zu, wo sie weiße Gaswolken verströmte. Da die Fallschirmjäger ja alle Gasmasken trugen, fand ich das unmöglich, aber meine allererste Reaktion war genau dieselbe wie die aller anderen – nichts wie weg hier, bevor einen das Gas erwischt. Wir drängten alle zurück und begannen die William Street hinaufzulaufen bis zur Rossville Street. Rennen war völlig unmöglich, da das Gedränge viel zu dicht war.

     Als wir die Einmündung der Rossville Street und damit den Zugang ins Ghetto erreichten, hörten wir das kreischende Aufheulen von Armeefahrzeugen und vielfaches lautes Knallen, das wir für Gummigeschosse hielten. Nun fing jeder an zu rennen, weil man Angst hatte, die Armee würde ihre Kidnapper losschicken, um Leute zu verhaften. Ich war in der Schule ja Geländeläufer gewesen und raste also quer über die Rossville Street los, während Eamonn sich hinter mir hielt. Aus dem dumpfen Geknall war jetzt scharfes Krachen geworden, und ich wusste sofort, dass scharfe Hochdruckmunition rund um uns her einschlug, es war nicht mehr das stumpfe Aufprallen von Gummigeschossen. Anscheinend merken es jetzt alle anderen auch.

     All die Männer, Frauen und Kinder, die erst kurz zuvor ihr Sonntagmittags-Mahl zu sich genommen hatten - zu Tausenden flohen die Bürgerrechtsmarschierer in Wellen vor den Fallschirmjägern, die wahllos feuerten. Alle hatten das Gefühl, irgendetwas sei hier ganz entsetzlich falsch. Es gab ja absolut keinen Grund, in eine friedliche Menschenmenge hineinzuschießen. Rings umher wurden unschuldige Zivilisten getötet und der Rest von uns musste sich blitzschnell Deckung suchen, bevor man selbst auch noch erschossen wurde. Zu Hunderten lagen Menschen am Boden und schrieen anderen zu, sie sollten dasselbe tun. Andere rannten weiter auf kleine Hofdurchgänge zwischen den Häusern zu. Während ich auf einen solchen Durchgang zuraste, schlugen Kugeln in die Ziegelwände ein, aber ich hielt nicht an. Dort angekommen fiel mir auf, dass Eamonn nicht mehr bei mir war, und nachdem ich einige Minuten gewartet hatte, rannte ich weiter zu seinem Haus, weil ich dachte, wir würden dort wieder zusammentreffen.(...)

     Als ich Eamonns Haus erreichte, fand ich dort nur seinen Bruder, der Priester war, vor. Er hatte bereits davon gehört, dass friedliche Bürgerrechtsdemonstranten ermordet worden waren und befürchtete, Eamonn könnte ebenfalls ein Opfer geworden sein. Nun wollte er unter den Leichen nachsehen, die dort lagen, wo sie erschossen worden waren. Ich war sofort bereit, ihn dabei zu begleiten.

     Also fuhren wir hinunter in die Bogside, die nicht weit entfernt lag. Wir begaben uns bis ganz nach vorn an die „Frontlinie“ neben den hohen Mietwohnungsblocks in der Rossville Street, wo Kugeln fliehende Zivilisten erwischt hatten, und fanden dort einen schrecklichen Anblick vor. Ein Mann mittleren Alters lag in einer unvorstellbar großen Blutlache am Boden. Sein Hinterkopf war von Schüssen zertrümmert und Knochensplitter und Gehirnmasse lagen umher. Leute standen daneben und starrten dieses entsetzliche Bild an, bis das große Banner des Bürgerrechtsverbandes Nordirlands über die Leiche und das Blut gebreitet wurde. Das blutgetränkte Banner diente später als grausige Erinnerung an das, was an diesem Tag geschah.

      Laut Gerücht waren wahrscheinlich bis zu einem Dutzend Menschen tot und viele weitere verwundet. Mein allmählich panisch werdender Gefährte beschloss, über die Brücke zum Altnagelvin-Krankenhaus in der Waterside zu fahren, um dort bei den Toten in der Leichenhalle nachzusehen. Ich erklärte mich bereit, mit ihm dorthin zu fahren, dabei glaubte ich nicht, dass wir auch nur in die Nähe des Krankenhauses gelangen würden. Mittlerweile waren nämlich überall in der ganzen Stadt Kontrollstellen errichtet worden.

     Tatsächlich aber verschafften uns sein Priestergewand, sein Ausweis und seine Gespräche mit Soldaten an den Kontrollstellen im Handumdrehen freie Fahrt auf die andere Seite des Flusses zum Krankenhaus. Als wir die gebohnerten Flure entlang auf die Leichenhalle zugingen, sah ich hochrangige Armee- und Polizeioffiziere davorstehen, die lachten und Scherze machten. Ich sagte dem Priester, ich könne nicht mit hinein in die Leichenhalle gehen, deshalb würde ich draußen auf ihn warten. Bei all den IRA-Aktivitäten, an denen ich mich bisher beteiligt hatte, war ich doch nie von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod konfrontiert worden und konnte die Vorstellung, hier jetzt ganz viele Tote zu sehen, nicht ertragen. Also ging er allein hinein. Die Armee- und Polizeioffiziere nahmen keine Notiz von mir. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei nur irgendein Teenager. 

     Nach einer Weile sah ich die ersten Angehörigen ankommen, um die Leichen ihrer Ehemänner und Söhne zu identifizieren. Gestützt von ihren Söhnen und Töchtern kamen  kleine ältere Frauen in Tränen aufgelöst den Gang entlang. Sie konnten einfach nicht glauben, dass ihre geliebten Angehörigen während eines harmlosen Bürgerrechtsmarschs erschossen worden waren. Als sie am Eingang der Leichenhalle ankamen, sahen sie das Grinsen und Gelächter der witzelnden Offiziere der britischen Armee und der Polizisten der Royal Ulster Constabulary.

     Mühsam hielt ich meine Tränen zurück (...). Mein Gefährte musste derweil den Angehörigen Seelsorge leisten, so dass ich lange in meiner schwelenden Bitterkeit vor der Tür ausharren musste. Als er endlich wieder herauskam, hatte er ein Notizbuch voller Namen und Adressen weiterer Angehöriger von Toten und Verletzten, und er bat mich, ihn weiter zu begleiten, während er zu den verschiedenen Adressen fuhr, um dort seelischen Beistand zu geben. Nur widerstrebend ließ ich mich darauf ein. In gedrückter Stimmung fuhren wir also schweigend quer durch die Stadt zur Bogside und nach Creggan und besuchten die Leute in ihren Häusern. Die Tränen und Schreie der schockierten Angehörigen waren aber zuviel für mich, so dass ich draußen wartete, während der Priester hineinging. Später wurde uns bestätigt, dass Eamonn bei einer Gruppe von Leuten dabeigewesen war, die nach den Schüssen von den Fallschirmjägern verhaftet worden waren, und dass er also am Leben war.
     Dreizehn Katholiken hatten sterben müssen, weil sie an einem Bürgerrechtsmarsch teilnahmen, und noch viele weitere waren angeschossen und verletzt worden. Selbst wenn die irischen Minister und andere Regierungsmitglieder an dem Riesenbegräbnis teilnahmen, was machte das schon aus? Was machte es für einen Unterschied, wenn die Medien der Welt ebenfalls teilnahmen? Und was würde das alles nützen bei der nächsten Gelegenheit, bei der britische Soldaten auf Katholiken schossen?

     Es ist kaum möglich, bei der Beschreibung der anti-britischen Wirkung, die der Bloody Sunday auf Derry und auf Irland hatte, zu übertreiben. Wie die Zeitung berichtete, blieben die Fabriken, Geschäfte, Läden, Banken und Büros alle aus Protest geschlossen und die Straßen waren menschenleer. Lehrer streikten und Schulen blieben geschlossen. Sieben Priester, die bei dem Massaker anwesend gewesen waren, unter ihnen auch der spätere Bischof von Derry, Edward Daly, ließen einen Offenen Brief in das „Derry Journal“ setzen:

Wir klagen den Befehlshaber des Fallschirmjäger-Regiments des willentlichen Mordes an. Wir klagen den Befehlshaber der Landstreitkräfte der tätigen Mithilfe an. Wir klagen die Soldaten des wahllosen Schießens auf eine fliehende Menschenmenge an, der Schadenfreude angesichts der Opfer, und der Behinderung derer, die zu medizinischer und geistlicher Betreuung einige der Sterbenden zu erreichen versuchten. Es ist unwahr, dass aus der Rossville Street heraus Schüsse auf die Armee gefeuert wurden, bevor diese mit dem Angriff begann. Es ist unwahr, dass auch nur einer der Toten und Verwundeten, um die wir uns gekümmert haben, bewaffnet war.
     Diese Erklärung veröffentlichen wir als Gegendarstellung zu den von Armee-Offizieren abgegebenen wahrheitsverfälschenden, widersprüchlichen Berichten. Wir verurteilen den Entschluss der Armee und der Regierung, solch eine Einheit wie die Fallschirmjäger einzusetzen, die gestern hier in Derry waren. Es handelt sich bei diesen Männern um ausgebildete Verbrecher. Das einzige, was sie von Terroristen unterscheidet, ist der bloße Anschein von Ehrenhaftigkeit, den ihnen das Tragen einer Uniform verleiht.
 
     Die meisten von Katholiken bewohnten Häuser in Derry setzten schwarze Fahnen als Zeichen des Protests und der Trauer. In Gegenden, die sowohl von Katholiken als auch von Protestanten bewohnt waren, erforderte das Aufziehen von schwarzen Fahnen mehr Bekenntniswillen, aber mein Vater war sofort mit meinem Vorschlag einverstanden, dass an unserem Haus auch eine solche wehen sollte.
     Nun war unser Haus unauslöschlich als nationalistisch gekennzeichnet, und damit für protestantische Begriffe auch als republikanisch. Zweifelsohne trug der Bloody Sunday zur Entfremdung der beiden Konfessionsgemeinschaften bei, da die eine die Erschießungen als gerechtfertigt ansah, während die andere Grund zu tiefster Trauer hatte. In der benachbarten Republik Irland hatte unterdessen eine riesige Menschenmenge vor der britischen Botschaft in Dublin protestiert und das Gebäude vor den Augen der irischen Polizei bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nach wie vor von großem Idealismus erfüllt, sah ich darin ein Zeichen für die Möglichkeit einer bald herannahenden Revolution. 
     An den Trauerfeierlichkeiten für die Zivilisten, die am Bloody Sunday ermordet worden waren, nahmen Minister der Regierung und Oppositionsführer aus der Republik Irland teil. Diese betrachteten ihre Anwesenheit als Zeichen ihrer zeitweiligen Solidarität mit der katholischen und nationalistischen Bevölkerung von Derry. Für viele von ihnen war es das erste mal, dass sie unsere Stadt besuchten. Man gab ihnen für die Totenmesse Sitzplätze in der Marienkirche in Creggan, während die Bürger von Derry draußen in der Kälte im Regen standen. Das erfüllte mich so mit Zorn, dass ich wegging und mich in meine bittere kleine Welt zurückzog.

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