(Shane O’Doherty war
14 Jahre alt, als einer der traditionellen Oraniermärsche die Situation zum
Eskalieren brachte.)
Die schwerste aller
Ausschreitungen, in welcher die Polizei schließlich aufgeben musste, bahnte
sich im Sommer 1969 an.
Der Sommer ist in
Nordirland allgemein keine Zeit der Unbekümmertheit, da es die Jahreszeit ist,
in der die probritischen Protestanten Märsche zum Gedenken an längst vergangene
Siege über die alteingesessenen irischen Katholiken abhalten. Der 12. Juli ist
der Tag der Oranier-Paraden; ...
diese heißen so nach Wilhelm von Oranien, der vor
mehreren Jahrhunderten importiert wurde, um als protestantischer Souverän dem
Katholikenkönig Jakob gegenüberzustehen. Die Oranier marschieren mit lauten
Blaskapellen und Trommlern nicht nur durch protestantische, sondern besonders
gezielt durch katholische Wohngebiete – der Sinn der Sache liegt nämlich darin, Salz in uralte Wunden der katholischen
Besiegten zu reiben.
Der 12. August ist
der große Tag in Derry, an dem ein protestantischer Oranierorden namens
„Apprentice Boys“ durch die überwiegend katholischen Stadtteile von Derry
marschiert und die Befreiung von Derry feiert. Die Stadt war 1690 von
katholischen Getreuen des Königs Jakob vergebens belagert worden. Der Umstand,
dass all das schon dreihundert Jahre zurück liegt, spielt auch keine Rolle –
die derzeitige Machtverteilung drückt sich für protestantische Begriffe in den
Märschen sehr gut aus.
Im August 1969 waren
die Katholiken in Derry gegen den Salz in die Wunde reibenden protestantischen
Triumphmarsch durch ihre Wohngebiete, während viele protestantische Marschierer
aus ganz Nordirland, wild entschlossen, ihren Triumphzug durchzuführen, sich
gewiss waren, dass die Polizei ihnen das Recht, durch katholische Viertel zu
ziehen, gewaltsam sichern würde. Damit hatten sie völlig Recht, und so waren
die Voraussetzungen geschaffen.
Ich hatte durch hervorragende Leistungen im Schulfach Irisch ein Stipendium
gewonnen und deshalb vier Wochen lang an einem Sommerseminar in Rannafast in
Donegal teilgenommen. Rannafast ist eines der Gaeltacht-Gebiete in Irland, wo
Irisch noch als Muttersprache gesprochen wird. Das vierwöchige Seminar umfasste
Irischen Tanz und Gesang, mit etwas Betonung der geschichtlichen Komponente,
und was mir noch viel wichtiger erschien, mit Mädchen. Junge Leute aus ganz
Irland nehmen an solchen Sommerseminaren teil, und es kommen auch einige aus
dem Ausland. Protestantische Kinder aus der Republik Irland nehmen ebenfalls
teil. Der Anführer des Osteraufstands
von 1916, Patrick Pearse, hatte etwas mit der Gründung der Gaeltacht-Schule zu
tun gehabt, was sie mir noch interessanter machte.
Ich erinnere mich
noch deutlich an den letzten Abend. Es war ein Ceili-Tanzabend am College, und
ich ging mit Maire Dempsey, einem Mädchen aus Dublin, das ich gern mochte, zum
Fenster, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Ich sah in den rosaroten Himmel
und sagte zu ihr: „Wer weiß, wo wir in zehn Jahren sein mögen.“ Da wusste ich
bereits, dass die Lage in Derry so schlimm war, dass die IRA, wo immer sie auch
war, bald in Erscheinung treten musste, und ich wünschte mir nichts in der Welt
so sehr, als mich dort einzureihen. Es war nicht nur eine Vorahnung, sondern
fast schon eine feste Überzeugung von mir, dass ich innerhalb der nächsten
Jahre entweder tot oder im Gefängnis sein würde.
Als ich nach Hause
zurück kam, war Derry infolge der von Polizisten begangenen Morde an den beiden
Katholiken so nervös wie nie zuvor. Zehntausende waren zum Begräbnis von Sammy
Devenney erschienen. Als weitere Anspannung kam die Nachricht hinzu, dass die
berüchtigten „B-Specials“ (eine bewaffnete paramilitärische
Protestanten-Truppe, die die Polizei unterstützen sollte) in Bereitschaft waren
und mit Gewehren durch die Straßen patrouillierten. Tausende von
Oranier-Marschierern würden an der Bogside entlangziehen, was für die dort
lebenden Katholiken eine ernstliche Bedrohung darstellte, und die Radiosender
und Fernsehstationen berichteten in den Nachrichten über diese Befürchtungen
mit einem Appell an die Oranier-Orden, ihre provozierenden Paraden abzusagen.
Dennoch wurden die
Märsche begonnen, und wer an ihnen teilnahm, ahnte nicht, dass hier nicht eines
Sieges, sondern schon bald der Niederlage der Royal Ulster Constabulary gedacht
werden würde, und dass britische Truppen auf den Straßen Nordirlands erscheinen
würden, um wenigstens den Anschein von Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Während die
Oranier-Parade unter dem Schutz der Royal Ulster Constabulary mit Getrommel
ihren Weg entlang der William Street verfolgte, schallten Beschimpfungen und
flogen Steine von den Katholiken hinüber. Die Polizei griff die Katholiken an,
und es kam zu einer Schlacht – der „Schlacht von Bogside“, wie sie später
genannt wurde.
Der Angriff der Royal
Ulster Constabulary wurde mit einem Hagel von Steinen und Molotow-Cocktails
beantwortet, und die Brandsätze flogen umso heftiger, nachdem eine Bande von
protestantisch-unionistischen Fanatikern zur Attacke gegen die Bogside
überging. Das war der Anfang der schwersten Tumulte, die ich je erlebt hatte.
Flaschenbomben prasselten auf gepanzerte Polizeifahrzeuge nieder, die die
Unbesonnenheit hatten, ins Ghetto einzudringen. Randalierer rannten mit den
Brandsätzen bis direkt vor die Polizeilinie, bevor sie sie losschleuderten. Die
Schlacht tobte die ganze Nacht hindurch, wobei beide Seiten Boden gewannen und
verloren. Die Polizei setzte große Mengen von CS-Gas ein, ohne Erfolg.
Die Clarendon Street
und die angrenzende Great James Street waren zeitweilig Teil des Schlachtfeldes.
Barrikaden aus Postfahrzeugen (aus einem nahe gelegenen Fahrzeughof) wurden quer über
beide Straßen gestellt, um zu verhindern, dass die Polizei und der
protestantische Mob die katholische Kathedrale angriffen. Als Schüsse auf uns
abgefeuert wurden, die einige Menschen verletzten, ließ man brennende Fahrzeuge
die Great James Street hinunter auf die Polizei und die Randalierer zu rasen.
Ich stand am oberen Teil der Great James Street, als zwei Leute nur wenige
Meter von mir entfernt angeschossen wurden. Ich konnte es kaum glauben, dass
meine protestantischen Nachbarn sich am unteren Ende der Straße drängten, von
wo die Schüsse kamen, und ich konnte es nicht fassen, dass wir keine
Schusswaffen hatten.
Ich glaubte, Gesetz
und Ordnung seien für immer zerstört. Hier waren Katholiken aller Gesellschaftsschichten
schwer damit beschäftigt, mit Waffen aller Art außer Schusswaffen die Kathedrale und das Ghetto zu
schützen – und dort waren die Protestanten und die Polizisten, die Schüsse auf
uns abfeuerten. Was konnte das Gesetz von nun an noch bedeuten, jetzt wo die Gesetzeshüter selbst die
Gesetzesbrecher waren?
Ich war groß und
schnell für mein Alter – am St Columb’s College war ich Geländeläufer. Daher
konnte ich vor der Polizei weglaufen, und zudem hatte ich eine Gasmaske der
britischen Armee. Mein ältester Bruder Eamonn, der Lehrer war, war zuvor eine
Zeit lang Mitglied der Freiwilligen der „British Territorial Army“ gewesen, und
ich entwendete seine Gasmaske aus dem Schrank in seinem Zimmer und nahm sie mit
an die vorderste Krawallfront, wo das CS-Gas stark verdichtet war. Mein Bruder
Cahir hatte gerade fünf Jahre Dienst in der britischen Luftwaffe beendet, und
ich war stolz auf den Besitz der Armee-Uhr, die er mir vom Luftwaffenstützpunkt
Muharraq in Bahrain zu meinem Geburtstag geschickt hatte. Mein Cousin Raymond
war ebenfalls bei der Royal Air Force. Ich war keineswegs der Sprössling einer
Familie von irischen Patriotismus-Fanatikern, sondern an britische Dinge und
Institutionen gewöhnt.
Die Polizei war
dabei, Steine und größere Brocken zu schleudern, CS-Gasgeschosse auf Menschen
abzufeuern, mit ihren Panzerfahrzeugen in die Menge hineinzufahren und sie mit
ihren Waffen zu bedrohen. Ich stand da und schaute zu, bis jemand mich bat, die
Maske an Leute auf dem Dach des höchsten Wohnblocks der Rossville Street
weiterzugeben, die unablässig Flaschenbomben auf die Polizei herabprasseln
ließen und sie dadurch daran hinderten, weiter in die Bogside einzudringen –
diese kleine Gruppe von Widerständlern war so erstaunlich erfolgreich, weil das
Gebäude so hoch war. Die Polizei beschoss sie ohne Erfolg mit CS-Gasgranaten.
Ich gab die Maske ab und bekam ein paar tiefe Züge
CSGas in die Lungen. Nach einer Weile hatte ich es verkraftet. Alle atmeten es
ein, und die meisten hielten es mit Hilfe verschiedener improvisierter
Gegenmaßnahmen einigermaßen aus. Dazu gehörten essiggetränkte Taschentücher
(die ich genauso unangenehm wie das Gas fand), und Fässer oder Wassereimer, in
welche die Wagemutigsten die gasversprühenden, heißen Granaten hineinwarfen. Es
war tatsächlich so, dass ich genau wie Hunderte anderer junger Leute das Zeug
überleben und immer noch Steine und Brandsätze werfen konnte.
Aus: Shane O'Doherty, The Volunteer - Erinnerungen einesehemaligen IRA-Terroristen, pp 59-64
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