Über das Buch

Der zweitjüngste Sohn einer kinderreichen katholischen Lehrerfamilie in Derry bekam schon früh die Diskriminierung der Katholiken zu spüren, die in den 60er Jahren zur Bildung einer starken Bürgerrechtsbewegung führte. Auch in den deutschen Nachrichten gab es damals immer wieder Berichte mit Bildern von Bürgerrechtsmarschierern, Polizeiknüppeln und Panzern. Doch nur wenigen deutschen Zuschauern gelang es, sich ein Bild der Zusammenhänge zu verschaffen. Viele glaubten, es handele sich um einen Glaubenskrieg zwischen Protestanten und Katholiken und wunderten sich, wie im aufgeklärten Westen so etwas möglich sein konnte.

Hier liegt nun der authentische Bericht eines ursprünglich unbeteiligten, später aber radikalisierten Zeitzeugen und Mittäters vor, der die Hintergründe aus eigenem Erleben schildert. In den langen Jahren seiner späteren Haft rechnete O'Doherty schließlich schonungslos mit sich selbst ab und wandte sich der aktiven Reue zu. Als das Buch 1989 zuerst erschien, war es sofort ein Bestseller. Dem deutschen Buchmarkt blieb es allerdings lange verborgen. Nun kann man O'Dohertys Autobiographie endlich auch bei uns erhalten und aus erster Hand erfahren, wie ein entsetzter Jugendlicher das Blutvergießen des Bloody Sunday 1972 miterlebte und welche Folgen es für ihn hatte.


Bilder von Derry

Bilder von Derry: Stadtteil Bogside / Zwei Wandgemälde / Mahnmal in der Bogside (Fotos: Mark A. Wilson, Kryptonit, Wikimedia Commons, Alan Mc)

Donnerstag, 13. Juni 2013

Leseprobe 1: Die Schlacht von Bogside

(Shane O’Doherty war 14 Jahre alt, als einer der traditionellen Oraniermärsche die Situation zum Eskalieren brachte.)
Die schwerste aller Ausschreitungen, in welcher die Polizei schließlich aufgeben musste, bahnte sich im Sommer 1969 an.
Der Sommer ist in Nordirland allgemein keine Zeit der Unbekümmertheit, da es die Jahreszeit ist, in der die probritischen Protestanten Märsche zum Gedenken an längst vergangene Siege über die alteingesessenen irischen Katholiken abhalten. Der 12. Juli ist der Tag der Oranier-Paraden; ...
diese heißen so nach Wilhelm von Oranien, der vor mehreren Jahrhunderten importiert wurde, um als protestantischer Souverän dem Katholikenkönig Jakob gegenüberzustehen. Die Oranier marschieren mit lauten Blaskapellen und Trommlern nicht nur durch protestantische, sondern besonders gezielt durch katholische Wohngebiete – der Sinn der Sache liegt nämlich darin, Salz in uralte Wunden der katholischen Besiegten zu reiben.

Der 12. August ist der große Tag in Derry, an dem ein protestantischer Oranierorden namens „Apprentice Boys“ durch die überwiegend katholischen Stadtteile von Derry marschiert und die Befreiung von Derry feiert. Die Stadt war 1690 von katholischen Getreuen des Königs Jakob vergebens belagert worden. Der Umstand, dass all das schon dreihundert Jahre zurück liegt, spielt auch keine Rolle – die derzeitige Machtverteilung drückt sich für protestantische Begriffe in den Märschen sehr gut aus.
Im August 1969 waren die Katholiken in Derry gegen den Salz in die Wunde reibenden protestantischen Triumphmarsch durch ihre Wohngebiete, während viele protestantische Marschierer aus ganz Nordirland, wild entschlossen, ihren Triumphzug durchzuführen, sich gewiss waren, dass die Polizei ihnen das Recht, durch katholische Viertel zu ziehen, gewaltsam sichern würde. Damit hatten sie völlig Recht, und so waren die Voraussetzungen geschaffen.

Ich hatte durch hervorragende Leistungen im Schulfach Irisch ein Stipendium gewonnen und deshalb vier Wochen lang an einem Sommerseminar in Rannafast in Donegal teilgenommen. Rannafast ist eines der Gaeltacht-Gebiete in Irland, wo Irisch noch als Muttersprache gesprochen wird. Das vierwöchige Seminar umfasste Irischen Tanz und Gesang, mit etwas Betonung der geschichtlichen Komponente, und was mir noch viel wichtiger erschien, mit Mädchen. Junge Leute aus ganz Irland nehmen an solchen Sommerseminaren teil, und es kommen auch einige aus dem Ausland. Protestantische Kinder aus der Republik Irland nehmen ebenfalls teil. Der Anführer des Osteraufstands von 1916, Patrick Pearse, hatte etwas mit der Gründung der Gaeltacht-Schule zu tun gehabt, was sie mir noch interessanter machte.
Ich erinnere mich noch deutlich an den letzten Abend. Es war ein Ceili-Tanzabend am College, und ich ging mit Maire Dempsey, einem Mädchen aus Dublin, das ich gern mochte, zum Fenster, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Ich sah in den rosaroten Himmel und sagte zu ihr: „Wer weiß, wo wir in zehn Jahren sein mögen.“ Da wusste ich bereits, dass die Lage in Derry so schlimm war, dass die IRA, wo immer sie auch war, bald in Erscheinung treten musste, und ich wünschte mir nichts in der Welt so sehr, als mich dort einzureihen. Es war nicht nur eine Vorahnung, sondern fast schon eine feste Überzeugung von mir, dass ich innerhalb der nächsten Jahre entweder tot oder im Gefängnis sein würde.

Als ich nach Hause zurück kam, war Derry infolge der von Polizisten begangenen Morde an den beiden Katholiken so nervös wie nie zuvor. Zehntausende waren zum Begräbnis von Sammy Devenney erschienen. Als weitere Anspannung kam die Nachricht hinzu, dass die berüchtigten „B-Specials“ (eine bewaffnete paramilitärische Protestanten-Truppe, die die Polizei unterstützen sollte) in Bereitschaft waren und mit Gewehren durch die Straßen patrouillierten. Tausende von Oranier-Marschierern würden an der Bogside entlangziehen, was für die dort lebenden Katholiken eine ernstliche Bedrohung darstellte, und die Radiosender und Fernsehstationen berichteten in den Nachrichten über diese Befürchtungen mit einem Appell an die Oranier-Orden, ihre provozierenden Paraden abzusagen.
Dennoch wurden die Märsche begonnen, und wer an ihnen teilnahm, ahnte nicht, dass hier nicht eines Sieges, sondern schon bald der Niederlage der Royal Ulster Constabulary gedacht werden würde, und dass britische Truppen auf den Straßen Nordirlands erscheinen würden, um wenigstens den Anschein von Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten.
Während die Oranier-Parade unter dem Schutz der Royal Ulster Constabulary mit Getrommel ihren Weg entlang der William Street verfolgte, schallten Beschimpfungen und flogen Steine von den Katholiken hinüber. Die Polizei griff die Katholiken an, und es kam zu einer Schlacht – der „Schlacht von Bogside“, wie sie später genannt wurde.
Der Angriff der Royal Ulster Constabulary wurde mit einem Hagel von Steinen und Molotow-Cocktails beantwortet, und die Brandsätze flogen umso heftiger, nachdem eine Bande von protestantisch-unionistischen Fanatikern zur Attacke gegen die Bogside überging. Das war der Anfang der schwersten Tumulte, die ich je erlebt hatte. Flaschenbomben prasselten auf gepanzerte Polizeifahrzeuge nieder, die die Unbesonnenheit hatten, ins Ghetto einzudringen. Randalierer rannten mit den Brandsätzen bis direkt vor die Polizeilinie, bevor sie sie losschleuderten. Die Schlacht tobte die ganze Nacht hindurch, wobei beide Seiten Boden gewannen und verloren. Die Polizei setzte große Mengen von CS-Gas ein,  ohne Erfolg.
Die Clarendon Street und die angrenzende Great James Street waren zeitweilig Teil des Schlachtfeldes. Barrikaden aus Postfahrzeugen (aus einem nahe gelegenen Fahrzeughof) wurden quer über beide Straßen gestellt, um zu verhindern, dass die Polizei und der protestantische Mob die katholische Kathedrale angriffen. Als Schüsse auf uns abgefeuert wurden, die einige Menschen verletzten, ließ man brennende Fahrzeuge die Great James Street hinunter auf die Polizei und die Randalierer zu rasen. Ich stand am oberen Teil der Great James Street, als zwei Leute nur wenige Meter von mir entfernt angeschossen wurden. Ich konnte es kaum glauben, dass meine protestantischen Nachbarn sich am unteren Ende der Straße drängten, von wo die Schüsse kamen, und ich konnte es nicht fassen, dass wir keine Schusswaffen hatten.
Ich glaubte, Gesetz und Ordnung seien für immer zerstört. Hier waren Katholiken aller Gesellschaftsschichten schwer damit beschäftigt, mit Waffen aller Art außer Schusswaffen die Kathedrale und das Ghetto zu schützen – und dort waren die Protestanten und die Polizisten, die Schüsse auf uns abfeuerten. Was konnte das Gesetz von nun an noch bedeuten,  jetzt wo die Gesetzeshüter selbst die Gesetzesbrecher waren?
Ich war groß und schnell für mein Alter – am St Columb’s College war ich Geländeläufer. Daher konnte ich vor der Polizei weglaufen, und zudem hatte ich eine Gasmaske der britischen Armee. Mein ältester Bruder Eamonn, der Lehrer war, war zuvor eine Zeit lang Mitglied der Freiwilligen der „British Territorial Army“ gewesen, und ich entwendete seine Gasmaske aus dem Schrank in seinem Zimmer und nahm sie mit an die vorderste Krawallfront, wo das CS-Gas stark verdichtet war. Mein Bruder Cahir hatte gerade fünf Jahre Dienst in der britischen Luftwaffe beendet, und ich war stolz auf den Besitz der Armee-Uhr, die er mir vom Luftwaffenstützpunkt Muharraq in Bahrain zu meinem Geburtstag geschickt hatte. Mein Cousin Raymond war ebenfalls bei der Royal Air Force. Ich war keineswegs der Sprössling einer Familie von irischen Patriotismus-Fanatikern, sondern an britische Dinge und Institutionen gewöhnt.
Die Polizei war dabei, Steine und größere Brocken zu schleudern, CS-Gasgeschosse auf Menschen abzufeuern, mit ihren Panzerfahrzeugen in die Menge hineinzufahren und sie mit ihren Waffen zu bedrohen. Ich stand da und schaute zu, bis jemand mich bat, die Maske an Leute auf dem Dach des höchsten Wohnblocks der Rossville Street weiterzugeben, die unablässig Flaschenbomben auf die Polizei herabprasseln ließen und sie dadurch daran hinderten, weiter in die Bogside einzudringen – diese kleine Gruppe von Widerständlern war so erstaunlich erfolgreich, weil das Gebäude so hoch war. Die Polizei beschoss sie ohne Erfolg mit CS-Gasgranaten.  

Ich gab die Maske ab und bekam ein paar tiefe Züge CSGas in die Lungen. Nach einer Weile hatte ich es verkraftet. Alle atmeten es ein, und die meisten hielten es mit Hilfe verschiedener improvisierter Gegenmaßnahmen einigermaßen aus. Dazu gehörten essiggetränkte Taschentücher (die ich genauso unangenehm wie das Gas fand), und Fässer oder Wassereimer, in welche die Wagemutigsten die gasversprühenden, heißen Granaten hineinwarfen. Es war tatsächlich so, dass ich genau wie Hunderte anderer junger Leute das Zeug überleben und immer noch Steine und Brandsätze werfen konnte.


Aus: Shane O'Doherty, The Volunteer - Erinnerungen einesehemaligen IRA-Terroristen, pp 59-64



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