Am 30. Januar jährt sich in Derry wieder einmal der Bloody Sunday von 1970. In diesem leicht gekürzten Auszug aus "The Volunteer" berichtet Shane als Augenzeuge aus der Sicht des 15jährigen Teenagers, der er damals war:
Die Bürgerrechtsbewegung hatte
schon ganz große Straßendemonstrationen gegen die Internierungsaktion
organisiert und angeführt, und eine weitere war fünf Tage nach meinem
Geburtstag geplant, also für den dreißigsten Januar.(...)
Zu dem Demonstrationsmarsch ging
ich zusammen mit Eamonn,...
... einem Sohn des Vorsitzenden der Nationalistischen
Partei, mit dem ich mich trotz seiner bescheuerten pazifistischen Überzeugung
gern anfreunden wollte. Die Demonstranten waren ungeheuer zahlreich, und der
Marsch nahm seinen zähflüssigen Verlauf von der Grünanlage Bishop’s Field in Creggan
durch die William Street, wo die britische Armee Barrikaden aufgestellt hatte,
die die Bürgerrechtsmarschierer daran hindern sollten, das Zentrum ihrer
eigenen Stadt zu erreichen. (Solche Barrikaden wurden immer von einem Tag auf
den anderen abgebaut und genauso oft auch wieder aufgebaut.) Jedenfalls sollte
der Marsch als nächstes die Straßenecke erreichen, die als Free Derry Corner
bekannt ist, wo dann Parlamentsabgeordnete aus Westminster und der
Labour-Parteiführer Lord Fenner Brockway zu der Menge sprechen sollten.
Eamonn und ich schlenderten ziemlich weit
hinten mit dem Protestzug mit, als unsere Gruppe die stacheldrahtbewehrten
Barrikaden erreichte, wo britische Soldaten des Fallschirmjäger-Regiments uns
bereits mit Gasmasken vor dem Gesicht und Gewehren in den Händen
gegenüberstanden. Es war allgemein so, dass man bis zur Barrikade marschierte
und sich dann in die Richtung der Redner weiterbewegte. Die Jüngeren fanden
Spaß daran, bei den Barrikaden zu bleiben und die Soldaten laut rufend zu
fragen, wieso die Bürger von Derry nicht frei waren, in ihre Stadtmitte zu
marschieren, aber das war alles nichts Besonderes.
Als Eamonn und ich an der
Stacheldrahtabsperrung ankamen, bemerkte ich, wie rechts von mir ein großer,
stämmiger Kerl, der sich ein Taschentuch vor das Gesicht gebunden hatte, etwas
hervorzog, was offenbar eine CS-Gasgranate (ein länglicher Gummibehälter mit
einer daran befestigten Zündvorrichtung) war. Er schleuderte sie über die
Stacheldrahtbarriere hinweg auf die Soldaten zu, wo sie weiße Gaswolken
verströmte. Da die Fallschirmjäger ja alle Gasmasken trugen, fand ich das
unmöglich, aber meine allererste Reaktion war genau dieselbe wie die aller
anderen – nichts wie weg hier, bevor einen das Gas erwischt. Wir drängten alle zurück
und begannen die William Street hinaufzulaufen bis zur Rossville Street. Rennen
war völlig unmöglich, da das Gedränge viel zu dicht war.
Als wir die Einmündung der Rossville
Street und damit den Zugang ins Ghetto erreichten, hörten wir das kreischende
Aufheulen von Armeefahrzeugen und vielfaches lautes Knallen, das wir für
Gummigeschosse hielten. Nun fing jeder an zu rennen, weil man Angst hatte, die
Armee würde ihre Kidnapper losschicken, um Leute zu verhaften. Ich war in der
Schule ja Geländeläufer gewesen und raste also quer über die Rossville Street
los, während Eamonn sich hinter mir hielt. Aus dem dumpfen Geknall war jetzt
scharfes Krachen geworden, und ich wusste sofort, dass scharfe
Hochdruckmunition rund um uns her einschlug, es war nicht mehr das stumpfe
Aufprallen von Gummigeschossen. Anscheinend merken es jetzt alle anderen auch.
All die Männer, Frauen und Kinder, die
erst kurz zuvor ihr Sonntagmittags-Mahl zu sich genommen hatten - zu Tausenden
flohen die Bürgerrechtsmarschierer in Wellen vor den Fallschirmjägern, die
wahllos feuerten. Alle hatten das Gefühl, irgendetwas sei hier ganz entsetzlich
falsch. Es gab ja absolut keinen Grund, in eine friedliche Menschenmenge
hineinzuschießen. Rings umher wurden unschuldige Zivilisten getötet und der
Rest von uns musste sich blitzschnell Deckung suchen, bevor man selbst auch
noch erschossen wurde. Zu Hunderten lagen Menschen am Boden und schrieen
anderen zu, sie sollten dasselbe tun. Andere rannten weiter auf kleine
Hofdurchgänge zwischen den Häusern zu. Während ich auf einen solchen Durchgang
zuraste, schlugen Kugeln in die Ziegelwände ein, aber ich hielt nicht an. Dort
angekommen fiel mir auf, dass Eamonn nicht mehr bei mir war, und nachdem ich
einige Minuten gewartet hatte, rannte ich weiter zu seinem Haus, weil ich
dachte, wir würden dort wieder zusammentreffen.(...)
Als ich Eamonns Haus erreichte, fand ich
dort nur seinen Bruder, der Priester war, vor. Er hatte bereits davon gehört,
dass friedliche Bürgerrechtsdemonstranten ermordet worden waren und
befürchtete, Eamonn könnte ebenfalls ein Opfer geworden sein. Nun wollte er
unter den Leichen nachsehen, die dort lagen, wo sie erschossen worden waren.
Ich war sofort bereit, ihn dabei zu begleiten.
Also fuhren wir hinunter in die Bogside,
die nicht weit entfernt lag. Wir begaben uns bis ganz nach vorn an die
„Frontlinie“ neben den hohen Mietwohnungsblocks in der Rossville Street, wo
Kugeln fliehende Zivilisten erwischt hatten, und fanden dort einen
schrecklichen Anblick vor. Ein Mann mittleren Alters lag in einer unvorstellbar
großen Blutlache am Boden. Sein Hinterkopf war von Schüssen zertrümmert und
Knochensplitter und Gehirnmasse lagen umher. Leute standen daneben und starrten
dieses entsetzliche Bild an, bis das große Banner des Bürgerrechtsverbandes
Nordirlands über die Leiche und das Blut gebreitet wurde. Das blutgetränkte
Banner diente später als grausige Erinnerung an das, was an diesem Tag geschah.
Laut Gerücht waren wahrscheinlich bis zu
einem Dutzend Menschen tot und viele weitere verwundet. Mein allmählich panisch
werdender Gefährte beschloss, über die Brücke zum Altnagelvin-Krankenhaus in
der Waterside zu fahren, um dort bei den Toten in der Leichenhalle nachzusehen.
Ich erklärte mich bereit, mit ihm dorthin zu fahren, dabei glaubte ich nicht,
dass wir auch nur in die Nähe des Krankenhauses gelangen würden. Mittlerweile
waren nämlich überall in der ganzen Stadt Kontrollstellen errichtet worden.
Tatsächlich aber verschafften uns sein
Priestergewand, sein Ausweis und seine Gespräche mit Soldaten an den
Kontrollstellen im Handumdrehen freie Fahrt auf die andere Seite des Flusses
zum Krankenhaus. Als wir die gebohnerten Flure entlang auf die Leichenhalle
zugingen, sah ich hochrangige Armee- und Polizeioffiziere davorstehen, die
lachten und Scherze machten. Ich sagte dem Priester, ich könne nicht mit hinein
in die Leichenhalle gehen, deshalb würde ich draußen auf ihn warten. Bei all
den IRA-Aktivitäten, an denen ich mich bisher beteiligt hatte, war ich doch nie
von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod konfrontiert worden und konnte die
Vorstellung, hier jetzt ganz viele Tote zu sehen, nicht ertragen. Also ging er
allein hinein. Die Armee- und Polizeioffiziere nahmen keine Notiz von mir.
Wahrscheinlich dachten sie, ich sei nur irgendein Teenager.
Nach einer Weile sah ich die ersten
Angehörigen ankommen, um die Leichen ihrer Ehemänner und Söhne zu
identifizieren. Gestützt von ihren Söhnen und Töchtern kamen kleine ältere Frauen in Tränen aufgelöst den
Gang entlang. Sie konnten einfach nicht glauben, dass ihre geliebten
Angehörigen während eines harmlosen Bürgerrechtsmarschs erschossen worden
waren. Als sie am Eingang der Leichenhalle ankamen, sahen sie das Grinsen und
Gelächter der witzelnden Offiziere der britischen Armee und der Polizisten der
Royal Ulster Constabulary.
Mühsam hielt ich meine Tränen zurück (...). Mein Gefährte musste derweil den Angehörigen
Seelsorge leisten, so dass ich lange in meiner schwelenden Bitterkeit vor der
Tür ausharren musste. Als er endlich wieder herauskam, hatte er ein Notizbuch
voller Namen und Adressen weiterer Angehöriger von Toten und Verletzten, und er
bat mich, ihn weiter zu begleiten, während er zu den verschiedenen Adressen
fuhr, um dort seelischen Beistand zu geben. Nur widerstrebend ließ ich mich
darauf ein. In gedrückter Stimmung fuhren wir also schweigend quer durch die
Stadt zur Bogside und nach Creggan und besuchten die Leute in ihren Häusern.
Die Tränen und Schreie der schockierten Angehörigen waren aber zuviel für mich,
so dass ich draußen wartete, während der Priester hineinging. Später wurde uns
bestätigt, dass Eamonn bei einer Gruppe von Leuten dabeigewesen war, die nach
den Schüssen von den Fallschirmjägern verhaftet worden waren, und dass er also
am Leben war.
Dreizehn Katholiken hatten sterben müssen,
weil sie an einem Bürgerrechtsmarsch teilnahmen, und noch viele weitere waren
angeschossen und verletzt worden. Selbst wenn die irischen Minister und andere
Regierungsmitglieder an dem Riesenbegräbnis teilnahmen, was machte das schon
aus? Was machte es für einen Unterschied, wenn die Medien der Welt ebenfalls
teilnahmen? Und was würde das alles nützen bei der nächsten Gelegenheit, bei
der britische Soldaten auf Katholiken schossen?
Es ist kaum möglich, bei der Beschreibung
der anti-britischen Wirkung, die der Bloody Sunday auf Derry und auf Irland
hatte, zu übertreiben. Wie die Zeitung berichtete, blieben die Fabriken,
Geschäfte, Läden, Banken und Büros alle aus Protest geschlossen und die Straßen
waren menschenleer. Lehrer streikten und Schulen blieben geschlossen. Sieben
Priester, die bei dem Massaker anwesend gewesen waren, unter ihnen auch der
spätere Bischof von Derry, Edward Daly, ließen einen Offenen Brief in das
„Derry Journal“ setzen:
Wir
klagen den Befehlshaber des Fallschirmjäger-Regiments des willentlichen
Mordes an. Wir klagen den Befehlshaber der Landstreitkräfte der tätigen
Mithilfe an. Wir klagen die Soldaten des wahllosen Schießens auf eine
fliehende Menschenmenge an, der Schadenfreude angesichts der Opfer, und der
Behinderung derer, die zu medizinischer und geistlicher Betreuung einige der
Sterbenden zu erreichen versuchten. Es ist unwahr, dass aus der Rossville
Street heraus Schüsse auf die Armee gefeuert wurden, bevor diese mit dem
Angriff begann. Es ist unwahr, dass auch nur einer der Toten und Verwundeten,
um die wir uns gekümmert haben, bewaffnet war.
Diese Erklärung veröffentlichen wir als
Gegendarstellung zu den von Armee-Offizieren abgegebenen
wahrheitsverfälschenden, widersprüchlichen Berichten. Wir verurteilen den
Entschluss der Armee und der Regierung, solch eine Einheit wie die
Fallschirmjäger einzusetzen, die gestern hier in Derry waren. Es handelt sich
bei diesen Männern um ausgebildete Verbrecher. Das einzige, was sie von
Terroristen unterscheidet, ist der bloße Anschein von Ehrenhaftigkeit, den
ihnen das Tragen einer Uniform verleiht.
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Die meisten von Katholiken bewohnten
Häuser in Derry setzten schwarze Fahnen als Zeichen des Protests und der
Trauer. In Gegenden, die sowohl von Katholiken als auch von Protestanten
bewohnt waren, erforderte das Aufziehen von schwarzen Fahnen mehr
Bekenntniswillen, aber mein Vater war sofort mit meinem Vorschlag
einverstanden, dass an unserem Haus auch eine solche wehen sollte.
Nun war unser Haus unauslöschlich als
nationalistisch gekennzeichnet, und damit für protestantische Begriffe auch als
republikanisch. Zweifelsohne trug der Bloody Sunday zur Entfremdung der beiden
Konfessionsgemeinschaften bei, da die eine die Erschießungen als gerechtfertigt
ansah, während die andere Grund zu tiefster Trauer hatte. In der benachbarten
Republik Irland hatte unterdessen eine riesige Menschenmenge vor der britischen
Botschaft in Dublin protestiert und das Gebäude vor den Augen der irischen
Polizei bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nach wie vor von großem
Idealismus erfüllt, sah ich darin ein Zeichen für die Möglichkeit einer bald
herannahenden Revolution.
An den Trauerfeierlichkeiten für die
Zivilisten, die am Bloody Sunday ermordet worden waren, nahmen Minister der
Regierung und Oppositionsführer aus der Republik Irland teil. Diese
betrachteten ihre Anwesenheit als Zeichen ihrer zeitweiligen Solidarität mit
der katholischen und nationalistischen Bevölkerung von Derry. Für viele von
ihnen war es das erste mal, dass sie unsere Stadt besuchten. Man gab ihnen für
die Totenmesse Sitzplätze in der Marienkirche in Creggan, während die Bürger
von Derry draußen in der Kälte im Regen standen. Das erfüllte mich so mit Zorn,
dass ich wegging und mich in meine bittere kleine Welt zurückzog.
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